Saturday, September 21, 2024
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Eric Breitinger: “Adoptiert ist man ein Leben lang”

Eric BreitingerIn Vertraute Fremdheit erzählen sechzehn Frauen und Männer im Alter zwischen vierundzwanzig und vierundachtzig, wie die Erfahrung, adoptiert worden zu sein, auch heute noch ihr Leben prägt. Sie berichten von der Suche nach ihrer Herkunft und wie die Gefühle des Fremdseins, des Weggegebenseins und der Selbstunsicherheit ihren Alltag mitbestimmen, ob sie wollen oder nicht. Der Schweizer Journalist Eric Breitinger, selber adoptiert, beleuchtet die vielen Facetten dieser einschneidenden Erfahrung, lässt aber auch Experten zu Wort kommen. Vor Kurzem durfte er für Vertraute Fremdheit den ‘Deutschen Kinder- und Jugendhilfepreis’ in Empfang nehmen. buchmagazin.ch hat ihn in der Nähe von Basel besucht.

Die Idee für dieses Buch reifte im Kopf des Autors nur langsam. Den Anfang machte das Eingeständnis der eigenen Sprachlosigkeit, der eigenen Unfähigkeit etwas zu benennen, das noch immer Einfluss auf das Heute hat. Ein Bekannter schlug Breitinger daraufhin vor, doch mal mit anderen Adoptierten zu sprechen und herauszufinden, ob es diesen leichter fällt, die Erfahrung in Worte zu fassen. Der Journalist in Breitinger begann sich zu regen. Er hatte angefangen „ein wenig zu recherchieren“ und dachte, es könne ja nicht schaden, „mal mit Einigen zu reden“. Irgendwann ging der Journalist dann vollends mit ihm durch, und er machte sich auf die Suche. Nachdem er bei Prominenten und Adoptionsorganisationen abgewiesen worden war, begann er im Bekanntenkreis nachzufragen und fand nach und nach seine Gesprächspartner. Dass er selber adoptiert war, hat ihm dabei sicher geholfen, schaffte die geteilte Erfahrung doch eine Verbundenheit und ein Vertrauen, das in den teilweise sehr berührenden Porträts spürbar ist.

vertraute_fremdheitBei den Lebensgeschichten aus der Schweiz und aus Deutschland, die das Buch „Vertraute Fremdheit“ vorstellt, finden sich grundlegende Ähnlichkeiten wie etwa die Erfahrung der Entwurzelung und des Weggegebenseins. Darüber hinaus sind die Erfahrungen und der Umgang damit aber sehr unterschiedlich. So spielt etwa das Alter der Porträtierten eine grosse Rolle, denn bis in die sechziger und siebziger Jahre hinein galt eine Adoption noch als gesellschaftlicher Makel. Auch war die Praxis der Inkognito-Adoptionen, bei der die Adoptivkinder nicht über ihre leiblichen Eltern aufgeklärt werden, bis dahin gang und gäbe. Diese Tatsache konnte sich verheerend auf die Adoptierten auswirken: Mit der Adoption verlor das Kind rechtlich alle Bindungen an die leiblichen Eltern, und die Adoptiveltern hatten das Recht, eine Kontaktaufnahme der leiblichen Eltern zu verhindern. Das Kind hatte dabei kein Mitspracherecht. Doch genau das Wissen um die leiblichen Eltern ist für die Identitätsfindung bei Adoptierten zentral.

Aus eigener Erfahrung plädiert der Autor ganz klar für Offenheit, im Idealfall sogar für den Kontakt mit den leiblichen Eltern. “Kinder verkraften die Wahrheit – und zwar oft besser als ihre Eltern”, schreibt er. Vermeiden die Adoptiveltern die Heimlichtuerei, die das Kind meistens sowieso durchschaut, können sie auch verhindern, dass die Kinder ihre leiblichen Eltern verherrlichen oder alle Hoffnungen darauf setzen, das verlorene Glück bei ihnen doch noch zu finden. Nicht selten endet dies zunächst jedoch in einer herben Enttäuschung. Auf die Suche nach der leiblichen Familie machten sich dennoch fast alle der Porträtierten. Kommt es zu einer Begegnung, kann diese einerseits eine augenfällige physische Verwandtschaft offenbaren, andrerseits aber auch eine Fremdheit, da die gemeinsame Vergangenheit fehlt. Doch egal, wie die Erfahrung aussah und ob es bei der einen Begegnung blieb oder ob sich ein fortwährender Kontakt daraus ergab, umsonst war die Suche für keinen der Porträtierten. Denn auch wenn sich die Eltern als “ganz normale Menschen“ herausstellten, ermöglichte die Begegnung den Betroffenen, einen fehlenden Teil ihrer Geschichte zu vervollständigen und sich von falschen Vorstellungen zu verabschieden. Ausserdem stellten sie nach der Begegnung bedeutende positive psychische Veränderungen bei sich fest.

Eindrücklich für den Autor selber war die Aussage fast aller Gesprächspartner, dass sie trotz allem die Adoption nicht missen möchten. Je nach Umständen kann eine Adoption oder Pflegschaft das Beste sein, was einem verlassenen Kind passieren kann. Insbesondere für Adoptierte aus dem Ausland, denn diese entkommen oftmals Hunger und Elend in ihrem Herkunftsland. Interessanterweise kommen diese mit der Situation oft viel besser klar als inländische Adoptierte. Dies liegt laut Breitinger einerseits daran, dass die Umwelt sie aufgrund ihres fremdländisches Aussehen sowieso als nicht leibliche Kinder ihrer Adoptiveltern identifiziert und die neuen Eltern sie daher gar nicht belügen können. Andrerseits besteht für viele Auslandsadoptierte nicht die geringste Chance, ihre leiblichen Eltern zu finden, da es sich oft um Findelkinder handelt oder ihre Papiere in den Heimen verloren gingen. Sie finden sich deshalb insgesamt besser mit dieser Tatsache ab. Oder wie eine der Porträtierten es formulierte: „Adoption ist das Selbstverständlichste auf der Welt“.

Zwischen den Porträts zitiert Breitinger immer wieder wissenschaftliche Studien und lässt Therapeuten und Adoptionsfachleute zu Wort kommen. Er greift auch Themen wie Babyklappen und Samenspenden auf und erläutert, wie sich die Adoptionspraxis im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen wie Patchwork-Familien und gleichgeschlechtliche Ehen entwickelt hat. „Vertraute Fremdheit“ ist eine gelungene Kombination aus berührenden, nachdenklich stimmenden Lebensgeschichten und fundiertem Hintergrundwissen, das Adoptierten helfen soll, „sich besser zu begreifen und zu lernen, von der eigenen Verletztheit ein wenig abzusehen.“ Obwohl seine eigene Adoptionsgeschichte nur am Rande in Erscheinung tritt, gelingt Breitinger ein eindrücklich offenes und mutiges Buch, dessen Lektüre auch für nicht Betroffene lohnenswert ist.

Eric Breitinger, Jahrgang 1962, studierte Geschichte und absolvierte eine Ausbildung an der Journalistenschule MAZ in Luzern. Er schreibt Reportagen für die Weltwoche und die ZEIT und erhielt 1998 den Ersten Preis im Journalistenwettbewerb der Robert-Bosch-Stiftung. Momentan arbeitet er beim Schweizer Konsumentenmagazin saldo und als freier Redakteur für die NZZ Folio. Im 2012 erhielt er für sein Buch Vertraute Fremdheit den “Deutschen Kinder- und Jugendhilfepreis”. Breitinger lebt mit seiner Familie in Pratteln.

Eric Breitinger
Vertraute Fremdheit
Adoptierze erzählen

Ch. Links Verlag, 2011
EAN 978-3-86153-642-0

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